Dienstag, 9. Dezember 2014

41. Das Zwiebelmodell der sozialen Nähe eignet sich nicht für die Erklärung des Verhaltens in sozialen Netzen

41.  Das Zwiebelmodell der sozialen Nähe eignet sich nicht für die Erklärung des Verhaltens in sozialen Netzen

Im Umgang mit persönlich bekannten wirklichen Menschen lassen sich, von innen nach außen betrachtet, Schichten der soziale Nähe unterscheiden, etwa so:
  1. Paarbeziehung 
  2. Enge Familienbindungen, also Kinder, Eltern und Geschwister
  3. Andere Verwandte und enge Freunde
  4. Ausgewählte Bekannte, Kumpels, zukünftige Freunde
  5. Unvermeidbare Bekannte, also Arbeitskollegen, Nachbarn
  6. Öffentlichkeit

Das menschliche Gehirn hat sich in der Evolution so weit entwickelt, daß es bei persönlich bekannten Menschen zur Unterscheidung der Schichten und zum jeweils angemessenen Verhalten fähig ist.  Für jede Schicht, die jemand als getrennt und unterschiedlich wahrnimmt, hat er ein daran angepaßtes Verhaltensrepertoire. 

Dieses unterscheidet sich bei
  • Vertrauen oder Zugangskontrolle zum persönlichen Bereich und zu Informationen
  • Offenheit oder Diskretion und Verschwiegenheit
  • Verletzbarkeit und Verwundbarkeit oder Gleichgültigkeit und Unangreifbarkeit
  • Reaktion auf unerwünschtes Verhalten, also reaktive Kritik oder Kontaktvermeidung
  • Unterstützung einschließlich ehrliches Feedback oder Desinteresse und Zurückhaltung
  • Respekt bei Gleichrangigkeit oder Toleranz und Duldung

Wer aber als Mitglied eines sozialen Netzes vor einem Bildschirm sitzt und mit nur als Text und mit Bildern repräsentierten, persönlich nicht bekannten Menschen interagiert, ist oft davon überfordert, sich angemessen zu verhalten.  Denn diese Situation gab es während der Evolution des menschlichen Gehirns und bis vor wenigen Jahrzehnten noch nicht.
  • Die Distanz, die man Fremden gegenüber üblicherweise wahrt, verschwindet.   Die Hemmschwelle sinkt, Fremde erscheinen als vermeintlich nahestehende Personen und werden so behandelt.  Einerseits wird ihnen unangemessenes Verhalten zugemutet, weil man sie nicht kennt und seine eigenen Erfahrungen unreflektiert überträgt.   Andererseits wird ihnen auch zuviel Bedeutung und Macht eingeräumt.   Man macht sich verletzbar, indem man die gleiche Rücksicht erwartet wie von den Menschen, die einen selbst und die eigenen Empfindlichkeiten kennen.
  • Im schriftlichen Kontakt sind alle nichtverbalen Reaktionen auf das eigene Verhalten unsichtbar.    Wer andere schriftlich angreift, erfährt höchstens einen Bruchteil der Reaktion.  
    Wer also bösartig ist und von der sichtbaren, in den Antworten erkennbaren Wirkung seiner Aggressionen und Gehässigkeiten enttäuscht wird, der steigert sein Verhalten und wird noch gehässiger.   
    Wer gutartig ist und nicht bemerkt, was er unbeabsichtigt anrichtet, lernt nichts dazu und hat keine Chance, sein Verhalten in Richtung zu mehr Rücksicht zu korrigieren.            
  • Solange Texte und Bilder immer untrennbar mit einem materiellen Trägermedium verbunden waren, ließen sich auch diese Medien ohne Irrtum unterschiedlichen Kommunikationstypen zuordnen.   Notizen, Tagebücher, Rundbriefe, Bücher, Plakate waren eindeutig und konnten nicht versehentlich verwechselt werden.    Heute aber hat jemand einen Text auf einem Bildschirm vor sich, und es gibt keinerlei oberflächlich erkennbaren Unterschied mehr, ob dieser Text ein für sich selbst geschriebener Text ist, eine erhaltene oder gerade selbst geschriebene private Nachricht, ein fremder oder ein eigener öffentlich zugänglicher Text ist.   
    Dadurch werden die eigentlich bedeutsamen Unterschiede verwischt.