Dienstag, 25. November 2014

35. Die evolutionären Grenzen der menschlichen Wahrnehmung

35.  Die evolutionären Grenzen der menschlichen Wahrnehmung
 
Die menschliche Wahrnehmung, also auch Sehen und Hören, hat sich über Millionen Jahre entwickelt.    
Während dieser gesamten Zeit und noch bis vor weniger als 100 Jahren galt dabei:   Wenn jemand einen Menschen sieht oder hört, dann ist auch tatsächlich ein wirklicher Mensch in der Nähe.   (Halluzinationen oder Erscheinungen wie eine Fata Morgana waren damit verglichen so selten, daß sie hierbei nicht berücksichtigt zu werden brauchen.)

Seit ca. 50 Jahren ist die Technik so weit, daß sich in Film und Tonkonserven Menschen so naturgetreu repräsentieren lassen, daß die menschliche Wahrnehmung nicht mehr zwischen einem realen Menschen und der Darstellung auf einem gestochen scharfen großen Monitor unterscheiden kann.   
Menschen sitzen weniger Meter vor einem Monitor.   Bewußt wissen sie, daß das eine technisch reproduzierte Scheinwelt ist.    Für ihre unbewußte Wahrnehmung, ihre instinktiven Reaktionen aber sind sie mitten in einer anderen Wirklichkeit.  Diese Diskrepanz hat Auswirkungen, die aber subtil und nicht leicht erkennbar sind.

Diesem Effekt kann man sich nicht völlig entziehen.  Man kann aber sich dessen bewußt sein.  
Ich höre mir zum Einschlafen manchmal Hörbücher an, die von Freiwilligen vorgelesen wurden.    Wenn ich diese Aufnahmen abspiele, dann weiß ich genau, daß da ein Ton aus den Lautsprechern kommt, der technisch erzeugt wird, nachdem ich zuvor eine Folge von Bits über eine Leitung abgerufen und abgespeichert habe.    
Trotzdem erlebe ich die Illusion, daß mir die Stimme dessen, der da scheinbar im Dunkeln in der Nähe sitzt und eine Geschichte erzählt, immer vertrauter wird, je mehr von der selben Person gelesenen Text ich höre.   Selbstverständlich weiß ich genau, daß derjenige, der einige Zeit zuvor irgendwo weit weg das Buch vorgelesen hat, nicht einmal weiß, daß ich existiere.  Den Effekt, daß die Stimme mir vertraut wird, den kann ich trotzdem nicht verhindern.     

Wenn also jemand einen Film sieht, weiß er zwar bewußt, daß er das nur auf einem Bildschirm sieht.  Trotzdem ist er auf der unbewußten Wahrnehmungsebene mitten im Geschehen.  Er ist dabei, aber ohne daß das Geschehen auf ihn selbst Auswirkungen hat und ohne daß er selbst eingreifen kann.    Der Zuschauer erlebt dramatische Situationen wie jemand, der dank einer Schutz- und Tarnkappe unverwundbar mitten drin ist, und doch nicht wirklich teilnimmt und auch niemals selbst in Gefahr ist. 

Über einen längeren Zeitraum hat diese hybride Wahrnehmung subtile Auswirkungen.   Je jünger Kinder sind, die diesem Effekt ausgesetzt werden, desto drastischer sind diese Folgen.  

Einige Beispiele für diese Effekte: 

1. Desensibilisierung gegenüber Gefahr

Früher hatten Menschen begründete Furcht vor wilden Tieren.   Bären und Wölfe wurden mit guten Grund im dicht besiedelten Mitteleuropa ausgerottet.    Heute sehen Menschen auf dem Monitor Bären, Wölfe, Tiger, Löwen in Groß- und Nahaufnahmen, aber angegriffen werden sie von diesen Bildern nie.  Dadurch werden diese Tiere immer mehr verharmlost, die angemessene Furcht vor der realen Bedrohung verschwindet.   Die gefährlichen Tiere werden zur unterschätzten Touristenattraktion und zu Photomotiven.   
Daß diejenigen, die diese Filme machen, sich selbst großen Gefahren aussetzen, ist nur abstraktes Wissen, das die Verharmlosung nicht verhindert.   Die Geschichte von Timothy Treadwell ist ein gutes Beispiel dafür.   Der hat mehrere Jahre lang in Alaska Grizzlybären nicht nur aus der Nähe gefilmt, sondern auch mit ihnen gespielt.    Das tragische Ende war, daß er von den Bären aufgefressen wurde.   
Daß Braunbären Wanderer attackieren und ihnen das Gesicht zerfetzen, ist Alltag in den USA.   In alten Romanen brauchten die Menschen in den USA ihre Schußwaffen, um sich gegen wilde Tiere zu verteidigen.   Dort leben auch heute in vielen Gegenden Bären und Raubkatzen, die sich oft sogar bis in die Gärten von Wohnhäusern verirren.   Trotzdem werden Schußwaffen nur noch als Instrument zur Tötung von Menschen betrachtet, die gefährlichen Tiere werden verharmlost.   Wenn Menschen im Revier von Bären zelten und dabei Kinder von Bären verschleppt werden, ist das erschreckender Leichtsinn, genau so wie die groteske Idee, daß manche Menschen in Mitteleuropa Bären und Wölfe wieder ansiedeln wollen.    Ich vermute, daß die Befürworter davon schon als Kinder gefilmte Nahaufnahmen von wilden Tieren gesehen haben und sie mit wildlebenden Kuscheltieren verwechseln.  

2.  Abstumpfung gegen und Verharmlosung von Gewalt
 
Wer Gewalt in der Realität miterlebt, egal ob an sich selbst oder anderen, der erlebt in der Regel eine Situation, in der er sich der längeren direkten Einwirkung der Situation nicht willentlich entziehen kann.   Wenn Gewalt auf dem Bildschirm gezeigt wird, dann ist die Sendung nach einer sehr begrenzten Zeit zu Ende.  Es reicht sogar ein Knopfdruck, sie sofort zu beenden.    
Danach ist in der Lebensumwelt alles wie zuvor.   Niemand hat dauerhafte Schäden, man sitzt immer noch genau so wie vorher vor dem Bildschirm.    Die Gewalt hat ja in der eigenen Wirklichkeit gar nicht stattgefunden.   Aber während sie auf dem Bildschirm gezeigt wurde, war die Gewalt für die unbewußte Wahrnehmung eben doch sehr wirklich.   
Das erzeugt eine Verharmlosung von Gewalt, denn egal wie extrem die gezeigten Grausamkeiten sind, im Nahbereich kommt ja nie jemand wirklich zu Schaden.   Die Folge von häufigem derartigem Medienkonsum ist eine allmähliche Abstumpfung gegen Gewalt im wirklichen Leben.

3.  Verzerrte Konsequenzen von Gewalt
 
Wenn in Filmen Gewalt gezeigt wird, dann meistens als ein erfolgreiches Mittel, um ein Ziel zu erreichen.    Der Zuschauer ist selbst nicht an der Gewalt beteiligt, er erlebt nicht selbst die nachteiligen Auswirkungen von Gewalt, also alle Verletzungen und bleibenden Schäden, die auch der Sieger bei realer, körperlicher Gewalt oft erleidet.   Gewalt erscheint auf dem Monitor als eine erfolgversprechende Methode, der hohe Preis wird im Vergleich zum Gewinn unterschlagen.  Das senkt die Hemmschwelle, selbst gewalttätig zu werden.    

4.  Pornographie als Verstärkung der Objektivierung

Wenn ein Mann, der Pornographie ansieht, überhaupt denkt, dann nimmt er an, daß die Frauen in den Filmen das freiwillig und gegen angemessene Bezahlung tun.  Was immer die Frauen schauspielerisch auszudrücken scheinen, wird als wahr angesehen, wenn es wie Lust aussieht, und als vorgetäuscht, falls die Pornographie Gewalt zeigt.   Zwang und Gewalt bei der Herstellung und der Ekel der Darstelleinnen wird verleugnet. 

Für die unbewußte, instinktive Wahrnehmung der Männer findet dagegen etwas ganz anderes statt.   Da erleben sie sich als Zuschauer, während mindestens ein Mann an mindestens einer Frau sexuelle Handlungen vornimmt.   Dieses zuschauende instinktive Tier nimmt die Frau nicht als einen Menschen wahr, sondern ein zu gebrauchendes Objekt.  Für ihn ist sie kein individuelles Wesen, über das er alleinige Besitzansprüche beanspruchen würde.  Der Zuschauer erlebt sich lediglich als nächster in der Warteschlange.   Je nach Art des Pornos ist das Objekt eine Prostituierte oder das Opfer einer Gruppenvergewaltiung.  Während der Wartezeit reagieren die Instinkte mit vorweggenommenen kopulationsvorbereitenden physiologischen Effekten.   Da aber der Pornozuschauer ja nur vor einem Bildschirm sitzt und nie wirklich an die Reihe kommen kann, beendet er selne Ungeduld irgendwann eigenhändig.
 
Der Zuschauer ist bei jeder Pornoszene auf der unbewußten Instinktebene Zeuge davon, daß eine Frau anscheinend willig an einer Straßenköterkopulation mitmacht.   Das hat leider einen sehr destruktiven Effekt.   Nachdem ein Mann Zuschauer bei Hunderten oder Tausenden solcher Szenen mit immer wieder anderen Frauen war, während er im echten Leben nur weit weniger Frauen mit Intelligenz und Persönlichkeit kennenlernt und kennenlernen kann, wird dadurch allmählich seine Einstellung zu und Erwartungshaltung gegenüber Frauen verzerrt.
Das Verhalten der vielen Frauen in den Pornos hält er für die soziale Norm und für die natürlichen weiblichen Bedürfnisse, während seine Fähigkeit, emotionale Bindungen einzugehen, verkümmert, falls er solche je hatte.   Da aber seine unbewußte Wahrnehmung nicht zwischen Film und echten Menschen unterscheiden kann, ändert die Pornographie auch seine Erwartungen an und sein Verhalten gegenüber realen Frauen.   Dadurch entsteht sehr viel Leid.     

Wenn man alle diese Effekte zusammen betrachtet, dann wundert mich überhaupt nicht, daß die Gewalt, bei der es in der Vergangenheit immerhin oft um Ressourcen zum Überleben ging, nicht verschwunden ist.  Heute in der Situation des Überflusses hat die Gewalt durch die Medien eine andere Form angenommen, die der schlimmen Verrohung und Abstumpfung gegenüber dem Leiden anderer Menschen. 
Durch die Pornographie werden Frauenkörpern als Kopulationsobjekt definiert, die Abstumpfung gegenüber Gewalt erleichtert es Männern, sich Frauenkörper hemmungslos verfügbar zu machen.   

Die Medien lassen sich nicht aus der Welt schaffen.   Aber es wäre schon viel gewonnen, wenn sich Menschen mehr über die oben beschriebenen Effekte im Klaren wären und in ihren rationalen Entscheidungen bemüht wären, trotzdem keinen Schaden anzurichten.