Dienstag, 26. Mai 2015

68. Eine evolutionspsychologisch begründete Definition von Reife

68.   Eine evolutionspsychologisch begründete Definition von Reife
 
Fast jeder betrachtet Reife als einen erstrebenswerten Zustand.   Aber Reife ist ein sehr vager Begriff, der sehr unterschiedlich und uneinheitlich definiert wird.  

Meine folgende Definition von Reife basiert auf evolutionspsychologischen Überlegungen.    Reife bedeutet dabei vor allem die voll entwickelte Fähigkeit zur Rationalität als der ultimativen kognitiven Steuerungsinstanz.  Wer in diesem Sinne reif ist, hat als Individuum den augenblicklich möglichen maximalen Endzustand der kognitiven Evolution erreicht.   Diese Reife ist deshalb auch ein menschliches Alleinstellungsmerkmal im Unterschied zu Tieren.

Dabei muß man primäre Rationalität von sekundärer Rationalität unterscheiden.   Bei der primären Rationalität sind auch die Ziele des Verhaltens rational begründet.   Sekundäre Rationalität ist hingegen nur ein Instrument, das zur Erreichung beliebiger, auch irrationaler Ziele eingesetzt wird.  
Nur die primäre Rationalität ermöglicht Reife, sekundäre Rationalität dagegen reicht dafür nicht aus.   Rationale, kognitive Reife ist deshalb der Endzustand eines langen und schwierigen Prozesses, der vor allem auch die Überwindung der Tierhaftigkeit beinhaltet.    Auf dem Weg zur rationalen Reifung gibt es sehr viele Hindernisse, so daß sehr viele Menschen diesen Zustand nie erreichen.   

Alles das, was von Menschen mit religiösem oder sonstigem Esoquack-Glauben bei impliziter Unterwerfung unter Instinkthaftigkeit als Reife und Weisheit proklamiert wird, ist im Sinne der kognitiven Evolution nur Pseudoreife.    Es ist der Versuch, es sich zu erlauben, als Tier zu leben, obwohl das Tiersein entweder verleugnet und nicht anerkannt oder aber zwischen Tiersein und Menschsein nicht unterschieden wird.   Pseudoreife ist der Zustand, in dem sich jemand als Mensch fühlt und trotzdem wie ein Tier rücksichtslos und instinktgetrieben anderen Schaden zufügt und das für gerechtfertigt hält.

Drei Faktoren der Reife

1.  Denkfähigkeit

Im Zustand der Reife gibt es keinen Glauben.   Denken und Verhalten sind evidenzbasiert und orientieren sich an Wahrscheinlichkeiten.   Behauptungen anderer werden niemals als Wahrheit geglaubt, sondern immer skeptisch überprüft.  

2.  Überwindung der Instinktivität

Im Zustand der Reife erkennen Menschen ihre eigene Individualität als Personen mit einer endlichen Existenz.   Sie identifizieren sich als Individuen und nicht als Genträger.   Dadurch sind sie sich bewußt, daß Individualität und Arterhaltung sich gegenseitig ausschließen.     Sie akzeptieren als Grundlage und Grundziel des Verhaltens das langfristig orientierte Wohlergehen von Individuen.   Ihre langfristig orientierte Selbstkontrolle ist stärker als momentane Impulse.   Den instinktiven Impulsen, durch die Individuen geschädigt werden, geben sie nicht nach.     

3.  Symmetrischer Austausch

Im Zustand der Reife ist das Ziel angemessenen Verhaltens der faire und symmetrische Austausch zwischen sich selbst als Individuum und allen anderen Individuen.   Dabei wird die Schädigung anderer und die eigene Aufopferung gleichermaßen vermieden.   Angestrebt wird eine symmetrische und ausgeglichene Balance von Geben und Nehmen.    Die Fähigkeit des rationalen Denkens und der Kontrolle der Instinkte sind Voraussetzungen hierfür.  


Die Unreife des Kindes als Ausgangssituation

Ein neugeborenes Kind hat zwar die genetischen Anlagen, um unter günstigen Bedingungen die rationale Reife zu erreichen.   Aber zum Zeitpunkt der Geburt unterscheidet es sich aufgrund seines noch nicht entwickelten Gehirnes noch nicht von einem Tier.    

1.   Denkfähigkeit

Während sich das kindliche Gehirn allmählich entwickelt, ist es zu einer kritischen Bewertung von Behauptungen noch nicht fähig.  Deshalb beinhaltet das unvermeidlich notwendige Vertrauen in die versorgenden Bezugspersonen automatisch den Glauben daran, daß alle deren Äußerungen Wahrheiten sind und alles Verhalten auf realen Tatsachen beruht.  
Deshalb ist zunächst nur die Entwicklung der sekundären, instrumentellen Rationalität möglich.   Die Erkenntnis von Ursache und Wirkung bei praktischen Alltagsproblemen führt zu einer erweiterten Form des Werkzeuggebrauches.  
 
Ein Neugeborenes schreit, wenn es Schmerzen hat.   Das etwas ältere Kind sagt der Bezugsperson, daß es Schmerzen hat und tut vertrauensvoll, was ihm geraten wird.  Das noch ältere Kind tut selbständig das, was es als Problemlösung für Schmerzen von der Bezugsperson gelernt hat.  
Das Kind lernt also, daß es rational ist, selbst etwas gegen den Schmerz zu tun.   Aber aufgrund des durch Vertrauen begründeten blinden Glaubens hat es noch nicht die Fähigkeit, dabei auch die Wahl des Mittels zu beurteilen und anzuzweifeln.   Ob die Bezugsperson eine vom Arzt verschriebene Medizin verabreicht oder stattdessen um Gesundheit betet, das kann ein Kind noch nicht beurteilen, es übernimmt beides unkritisch als Wahrheit.   

Die Schwierigkeit bei der Erreichung von Reife ist der Übergang von der sekundären zur primären Rationalität.   Ein grundlegender Schritt dabei ist es, Vertrauen und Glauben zu trennen.   Rationale Reife beinhaltet, daß selbst bei vollem Vertrauen klar zwischen Absichten und Wissen unterschieden und die Validität von Aussagen hinterfragt wird.   Wer das nicht lernt, kann nicht mehr rationale Reife erreichen als die der Vertrauenspersonen während der Erziehung, weil deren Glauben einfach übernommen und nie hinterfragt wird.   Deshalb wird häufig die Verhinderung der vollen kognitiven und rationalen Reifung von Generation zu Generation weitergegeben.  
Wer damit aufgewachsen ist, daß Beten zu einem imaginären Gott eine Form der Problemlösung wäre, bleibt unreif, solange er an diesem Glauben festhält.   Erst die Erkenntnis, daß dieser Glaube absurd und irrational ist, ist der wesentliche Schritt von der sekundären zur primären Rationalität.

2.  und 3.  Instinktivität und asymmetrischer Eigennutz

Bei der Geburt ist ein Kind zunächst ein instinktgetriebener Parasit, der in einer asymmetrischen Beziehung das Versorgtwerden instinktiv und egoistisch einfordert. Neugeborene und Kinder sind gesetzlich dazu berechtigt, daß alle ihre Bedürfnisse asymmetrisch, also ohne Gegenleistung, befriedigt werden.   Da das Wechseln stinkender Windeln unzumutbar ist, ist die gesetzliche Verpflichtung dazu und zu anderer stumpfsinniger Hausarbeit ohne Gegenleistung eine Form von Versklavung.   Daß Eltern diese Sklaverei freiwillig auf sich nehmen, ändert nichts an der asymmetrischen parasitären Situation.   

Der Ausgangspunkt der Reifung ist also die Situation, daß die Berücksichtigung des asymmetrischen Eigennutz zunächst als unvermeidliche Gegebenheit anerkannt wird.   Damit aus einem instinktgetriebenen, tierhaften Neugeborenen ein reifer Erwachsener werden kann, der mit kritischem Abstand die eigenen Instinkte im Hinblick auf Schädlichkeit bewerten und kontrollieren kann, ist eine völlig Umkehr der subjektiven Selbstverständlichkeiten erforderlich.  
Davon sind viele Menschen überfordert.  Statt zu reifen und die Instinktgetriebenheit zu überwinden, unterwerfen sie sich auch als Erwachsene weiterhin willig der Kontrolle durch andere, nun der Arterhaltung dienende und andere schädigende Instinkte.  

Darüber hinaus wirken Irrationalität im Denken und asymmetrische Schädigung anderer durch Instinktivität auch zusammen bei der Verhinderung der Reifung.   Denn viele der mächtigen, unausrottbaren und unkritisch übernommenen Glaubensinhalte sind solche irrationalen Behauptungen, die verhindern, daß jemand an kognitiver Dissonanz leidet, wenn er Instinkte auslebt, obwohl dadurch andere Menschen geschädigt und ausgenutzt werden.